1. Mark Fritsche (Der Schwarzmagier)
Prosa 1. Platz
Der Schwarzmagier - Mark Fritsche
11 Uhr und 16 Sekunden. Ich starre auf meine Armbanduhr und bin mit ihrer Konklusion bezüglich der Zeit nicht einverstanden. Es stimmt zwar höchstwahrscheinlich, dass es 11 Uhr 16 ist, aber das heißt nicht, dass man das auch als Realität akzeptieren muss. Mir wäre es zum Beispiel lieber, es wäre später. Spät genug, um kurz vor Feierabend zu sein. Wenn alle Uhren auf der Welt eine spätere Zeit anzeigten, würden die Menschen es glauben, auch wenn es nach dem Stand der Sonne nicht sein könnte. Schließlich ist es wahrscheinlicher, dass sich die Sonne irrt, als dass sich alle Uhren auf der ganzen Welt gleichzeitig irren.
Dumm nur, dass man nicht einfach so alle Uhren umstellen kann. Man müsste der Weihnachtsmann sein, der könnte das. Ich stelle fest, dass erst April ist. Wäre man also der Weihnachtsmann, hätte man jetzt sowieso frei und bräuchte die Uhren gar nicht umzustellen. An Weihnachten arbeiten zu müssen, würde mir aber auch nicht gefallen. Außerdem gibt es den Weihnachtsmann nicht. Das heißt, gäbe es mich nicht, wäre es egal, welche Zeit es ist, weil ich so oder so nichts tun müsste. Ich würde nicht hier sitzen. Ich wünschte, es gäbe mich nicht.
Vielleicht ist die ganze Welt nur meine Einbildung. Bin ich allmächtig? Kann ich den Lauf der Dinge verändern? Ich stelle mir vor, mein Lehrer würde sich selbst mit einer E-Gitarre totschlagen. Das Blut würde auf die Blätter auf dem Pult spritzen. Und auf die Tafel. Mein Lehrer tut es nicht. Vielleicht ist es auch physikalisch unmöglich, sich selbst mit einer Gitarre totzuschlagen. Ich stelle mir also statt der Gitarre einen Rasenmäher vor. Der Lehrer tut es nicht. Dabei wünsche ich es mir so sehr. Ich nehme an, dass ich die Welt wohl doch nicht beeinflussen kann. Ist die ganze Kacke also doch echt…
Obwohl ich nicht an ihn glaube, wende ich mich an Gott. Er möge mir doch bitte helfen und einen Blitz schicken, der meinen Lehrer trifft oder meinetwegen auch mich, Hauptsache, das Ganze hat ein Ende. Gott unternimmt nichts. Er hat uns schließlich nach seinem Ebenbilde erschaffen und da jeder normale Mensch bis eins schläft, ist der Herr wohl noch im Bett. Deswegen bekommt er auch nicht mit, dass ich hier sitze und ihn brauche.
Ich beschwöre die Macht herauf. Dunkle Seite, helle Seite, scheißegal. Ich versuche selbst, Blitze auf meinen Lehrer loszulassen. Geht nicht. Dann versuche ich, ihn durch Telepathie durch das Fenster zu schleudern. Geht auch nicht. Offenbar nicht stark in mir die Macht ist.
Ich sammle einige Blätter und Papierschnipsel und bastle aus ihnen eine Voodoopuppe. Auf diese schreibe ich den Namen meines Lehrers. Soviel ich weiß, muss noch ein Teil von ihm in die Puppe eingearbeitet werden, damit sie funktioniert. Ein Haar oder ein Stück Hornhaut. Ich brauche nicht lange zu überlegen, um zu wissen, dass das nicht leicht zu bewerkstelligen ist. Stattdessen will ich es mit einem Stück Kreide versuchen, das er berührt hat. Da müssen ja Hautpartikel und Schweiß dran sein und die dürften ihren Zweck erfüllen.
Um meinen Plan zu schmieden, brauche ich keine ganze Minute: Ich nehme etwas Müll, wovon hier ja genug rum liegt, gehe ganz unauffällig zum Papierkorb und auf dem Rückweg an der Tafel vorbei, wo ein Stück Kreide auf mich wartet, das der Alte eben erst angepackt hat. Das lass ich dann heimlich mitgehen. Keine Sau wird was merken.
Ich versuche noch schnell, meine sämtlichen mentalen Kräfte zu mobilisieren. Es ist keine Zeit zum Schludern, ich darf nicht mehr trödeln. Ich bin jetzt ein Mann und muss mit dem Ernst des Lebens fertig werden. Das ist kein Spiel, das hier ist Krieg.
Ich stehe auf und schlendere zum Papierkorb. Niemand schöpft Verdacht. Mein teuflischer Plan scheint zu funktionieren. Ich lasse den Müll in den Eimer fallen und mache mich auf den Weg zurück zu meinem Platz. Ich fokussiere das Stück Kreide. Der Alte steht mit dem Rücken zur Tafel, er wird nichts bemerken. Närrischer alter Mann! Sein Schicksal ist ihm nicht bewusst. Ich nähere mich dem Stück Kreide, schwielige Finger greifen danach und schrammen damit auf der Tafel herum. Der Alte war schneller! So ein Mist. Mein ganzer Plan wurde zerstört. Ich habe den Greis unterschätzt, seine Macht ist groß. Bin ich ihr etwa gar nicht gewachsen?
Als der Alte mich mit seinen Worten zukleistert, fällt mir plötzlich auf, dass ich neben ihm stehengeblieben bin und das Stück Kreide in seiner Hand fassungslos angestarrt habe. Unter seinem Wortbombardement ziehe ich mich zurück, um meinen nächsten Angriff zu planen. Ich werde nicht kapitulieren, das wirst du noch sehen alter Mann!
Verbittert schmiede ich meinen nächsten Plan. Ich nenne ihn knapp Operation Tod dem widerlichen alten Stinkstiefel, Codename Sterbehilfe. Ich werde noch einmal nach vorne müssen. Aber diesmal muss der alte Mann richtig abgelenkt werden. Ich denke daran, irgendwelche Sachen durch den Raum zu werfen, damit er diese untersucht, komme aber zu dem Schluss, dass das nicht ausreichen wird. Es versetzt mir einen Stich ins Herz als ich feststelle, dass ich ein Opfer bringen muss. So wie einst Judas den Herrn verriet, so werde auch ich Verrat üben. Und, so wahr mir Gott helfe, die Freiheit soll meine dreißig Silberlinge sein!
Ich setze meine Aufmerksamkeitsmiene auf und fummelte unter dem Tisch mit dem Handy herum, das ich meinem Sitznachbarn aus seiner Tasche geklaut habe. Währenddessen macht mein Verstand Überstunden. Wen soll ich zu Ablenkungszwecken telefonisch opfern? Wer ist blöd genug, zu riskieren, dass sein Handy im Unterricht klingelt. Mein Blick schweift durch den Raum. Ich betrachte die ahnungslosen Gesichter und Hinterköpfe. Dumme, dumme Menschlein, wie ihr da sitzt, nicht wissend, dass euer Erlöser schon unter euch ist. Dann sehe ich sie. Diese ekelhafte Kuh, die mir einst einen Korb gab. Sie wird geopfert! Das ist fair, es soll zuerst die schlechten Menschen treffen. Sie soll einsehen, dass sie damals einen Fehler gemacht hat. Wer mit meinen Gefühlen spielt, spielt mit seinem Leben! Oder zumindest mit seinem Handy. Ich bereite mich darauf vor, leise, aber geschwind, zur Tafel zu hasten. Nur noch ein Knopfdruck. Ich drücke. Mein Herz verausgabt sich, während ich auf das Klingeln aus dem anderen Ende des Raums warte.
Dann ist es so weit. Ihr Handy klingelt. Als der alte Mann sich zu ihr umdreht, springe ich los. Ihr Klingelton – „Bad Romance“ von Lady Gaga – wird dem epischen Krieg, den ich in diesem Klassenraum ausfechte, als musikalische Untermalung nicht ganz gerecht. Doch das kümmert mich nicht. Ich kämpfe um unsere Freiheit, ja, um unser Leben, während der Feind an einer anderen Front mit Nichtigem beschäftigt ist.
Ich bekomme die Kreide zu fassen und ziehe mich wieder auf meinen Platz zurück, noch bevor der Greis der dummen Kuh ihr Handy abgeluchst hat. Ich gebe meinem Nachbarn sein Handy wieder zurück, dessen Fehlen ihm erst jetzt auffällt. Er ist etwas empört, doch damit musste ich rechnen. Der Pfad der Gerechten ist stets steinig.
Ich sehe nochmals in Richtung des Opferlamms. Sie schämt sich, ihr Kopf ist rot wie die Mütze vom Weihnachtsmann. Man muss ihre Mimik nicht gut kennen, um zu sehen, dass sie gegen die Tränen ankämpft. Das ist meine Rache und ich genieße es. Sie sieht mich an. Ich grinse. Sie begreift. Dann versucht sie, ihre Ehre zu retten. Sie erzählt dem Alten, ich hätte sie angerufen. Ich versichere ihm mit meiner seriösen Stimme, dass ich nicht mal ein Handy dabei habe und er könne mich gern durchsuchen, falls er mir nicht glaube. Der Greis wird grantig und scheißt mein Opferlamm noch mal zusammen. Ich spüre meinen Triumph. Ich habe praktisch schon gesiegt. Über alles und jeden. Als nächstes ist Gott dran, der mir nicht helfen wollte. Auch ihn wird meine Rache treffen!
Aber zunächst schiebe ich das Stück Kreide der Voodoopuppe in den Hintern. Ferner backe ich eine tote Mücke, die zufällig auf meinem Tisch liegt, noch in die Puppe ein. Vielleicht funktioniert sie mit Blut drin noch besser. So soll denn dieser abgestorbene Organismus, diese Mücke, als Katalysator für meine Schwarze Magie dienen.
Die Puppe ist vollbracht. Ich bin ja kein Experte, daher murmele ich einfach irgendwelche Laute vor mich hin, die als Beschwörungszauber dienen sollen und schaue dann mein Werk an. Nun habe ich all diese Macht in meiner Hand. Was soll ich mit der Voodoopuppe tun?
Ich durchwühle meine Federmappe, nein, mein Schwarzmagisches Waffenarsenal. Dabei lasse ich mir Zeit und Vorsicht walten. Es gibt nichts zu verlieren. Behutsam nehme ich meine magischen Folterwerkzeuge und lege sie neben die Puppe. Ein Kugelschreiber, mit dem ich sie pfählen kann. Eine Schere, um sie zu zerstückeln. Das reicht. Ich mache noch einige Lockerungsübungen bevor das magische Ritual beginnt.
Zunächst steche ich der Puppe mit dem Kugelschreiber in die Augen. Dann schaue ich erwartungsvoll hoch. Hoffe auf blutige, dunkle Löcher im Gesicht meines Lehrers. Doch was sehe ich? Dieselben glasigen Altherrenaugen, die mal hierhin, mal dorthin glotzen. Vielleicht ist mein Pfahl dieser magischen Aufgabe nicht gewachsen. Ich nehme also die Schere zur Hand und steche der Puppe damit in die Augen. Auch das hat keinen Effekt auf den Greis. Es ist, als würde er mich verspotten. Ich beginne an mir zu zweifeln. Ist vielleicht dieser alte Mann selbst ein Magier? Ist er weiser als ich? Hat er mich gar überlistet? Diese Fragen beunruhigen mich. Dennoch lasse ich nichts unversucht. Ich habe Verantwortung. Dieser Krieg darf nicht umsonst gewesen sein!
Ich schneide der Puppe zunächst einen Fuß ab. Da mein Lehrer nicht beginnt zu schreien, nehme ich an, dass sein Fuß noch da ist, wo er hin gehört. Vielleicht muss ich etwas nachhelfen. Ich stibitze meinem Nachbarn einen roten Filzstift und male den Stumpf meiner Puppe ordentlich an. Wieder schreit der Greis nicht. Ich muss mich etwas verrenken, um einen direkten Blick auf seinen Fuß werfen zu können. Aber das ist sicherheitshalber nötig. Der Fuß ist intakt und auch das Hosenbein in keinster Weise blutgetränkt.
Nach und nach schneide ich der Puppe die Gliedmaßen ab und male die Stümpfe rot an. Es hilft alles nicht. Mit Klebeband flicke ich die Puppe notdürftig wieder zusammen und reiße ihr dann wieder die Arme ab, in der Hoffnung, dass es diesmal funktioniert. Doch nichts geschieht. Ich habe als Schwarzmagier versagt. Ich habe eine Schlacht verloren, eine weitere gewonnen, habe gelitten und gefürchtet, ich habe einen Menschen geopfert – einen, der mir scheißegal ist, aber immerhin – und ich habe den roten Filzstift meines Nachbarn komplett entleert. Und all dies war umsonst. Künftige Magier werden über mich spotten. Aber ich hätte es wissen müssen. Schuster, bleib bei deinen Leisten, sagt man. Und ein Schuster ist eben kein Schwarzmagier. Vielleicht sollte ich es mit Weißmagie versuchen. Heilen. Gutes tun. Ich versuche, meine Voodoopuppe durch Magie zu reparieren. Es funktioniert nicht.
Ich muss über mich selbst lachen, wie albern ich manchmal sein kann. Heilen, Gutes tun. So ein Blödsinn. Ich nehme die Voodoopuppe und als der Lehrer gerade zur Tafel schaut, werfe ich sie durch das halb geöffnete Fenster.
Von einer unsichtbaren Kraft gestoßen, fliegt der Lehrer durch die Luft, durchstößt die dicke Glasscheibe, die in tausende kleine Kristalle zerfällt, und stürzt in die Tiefe und seinen sicheren Tod. Meine Mitschüler sind aufgebracht, manche rennen schreiend aus dem Raum. Andere laufen zum Fenster und schauen hinaus. Auch ich werfe einen Blick hinunter auf den blutigen Rest eines alten Mannes. Keiner weiß es, außer mir, dass ich das war. Und ich bin glücklich.
Als ich merke, dass ich mir das alles nur eingebildet habe, bin ich nicht mehr glücklich. Als ich dann merke, dass erst zwei Minuten vergangen sind, seit ich zuletzt auf die Uhr geguckt habe, bin ich noch weniger glücklich. Und als ich dann merke, dass mich alle anschauen, bekomme ich auch noch Angst. Habe ich etwa meinen Tagtraum laut zum Besten gegeben? Oder hat mich der Lehrer nur etwas gefragt?
„Bitte was?“, sage ich und hoffe, dass letzteres der Fall ist. Man erwacht aus einem Tagtraum und muss sofort eine Frage beantworten, die sich ungeschickterweise zeitlich mit dem Tagtraum überschneidet und vom eigenen Bewusstsein daher nicht mehr erfasst wird. Kenn ich.
Kennt der Alte auch von mir, daher rollt er nur mit den Augen und fragt jemand anders. Glück gehabt. Was nun?
Ich sehe ein Stück Kreide vorne liegen, schaue dann rüber zu der Thusnelda, die mir in Wirklichkeit nie einen Korb gegeben hat, weil ich nie mit ihr gesprochen habe (aber hätte ich das, hätte sie mir vermutlich einen gegeben), und dann auf das Handy, das meinem Sitznachbarn aus der Tasche hervorlugt. Und ich weiß sofort, was zu tun ist. Denn ich bin ein Schwarzmagier.